Blau und weiß ein Leben lang – Notizen einer Reise

Ein anderes Zimmer. Das Licht hier erinnert mich an die Abenddämmerung. Diese knappe eine Stunde, wo sich die Grenze vom Tag zur Nacht auflöst. In dem die scharfen Konturen beginnen unscharf zu werden und die Farben des Tages langsam von der Dunkelheit der Nacht abgelöst werden, entsteht irgendwo dazwischen dieses ganz besondere Licht mit seinem Farbenspiel.

Blaue, bis an den Boden reichende Gardinen sind zugezogen. Etwas Sonnenschein dringt durch einen kleinen Spalt, wo sich die beiden Gardinenhälften nicht ganz berühren. Außer einem blau, weißem Bett stehen noch ein Regal mit einer Musikanlage, ein kleiner, runder Tisch und vier Stühle im sonst leeren Raum.

Auf dem Tisch steht eine Kristallvase mit wild durcheinander gemischten bunten Blumen. Mir gefallen die Margeriten. Sie haben die Form, wie kleine Kinder Sonnen malen. Ein kleiner Kreis mit vielen kleinen Sonnenstrahlen daran. An der Decke hängt eine Lampe. Sonne und Mond spenden ein weiches, warmes Licht. Überhaupt spielen Sonne und Mond eine große Rolle in diesem Zimmer. An den Wänden sind Sonne, Mond und Sterne in den unterschiedlichsten Farben aufgemalt. Auch das Bett ist damit bemalt. Alles wirkt so liebevoll und harmonisch.

„Das ist das Abschiedszimmer mit dem Sterbebett.“, sagt Frau Schneider ganz beiläufig. Ich wußte vor meinem Besuch nicht einmal, das es so einen Raum überhaupt gibt. Erst als Frau Schneider mir mit einer Geste zu verstehen gibt, ich solle ruhig noch in dem Zimmer bleiben, merke ich wie mir die Tränen die Wangen hinab laufen. Sie verlässt stumm den Raum. Mich überwältigt meine eigene Angst, in so einem Zimmer zur selben Zeit mit einem meiner Kinder sein zu müssen.

Ich sitze eine Weile auf einem der Stühle. Auch wenn es mir körperlich weht tut, merke ich, von dem Raum geht eine ungeheure Kraft und Ruhe aus. Ich habe das Gefühl, wie sich die Grenze vom Tag zur Nacht in der Dämmerung auflöst, verschwimmt hier ganz leise die bewußte Grenze zwischen Leben und Tod. Zeit spielt keine Rolle mehr. Und trotzdem, so ein Zimmer dürfte es gar nicht geben, denke ich. Ich wische mir meine Tränen weg und stehe wieder auf.

Als ich am Abend davon meinen Kindern erzähle, sagt mein Sohn, er möchte auch so ein Bett. „Nicht zum Sterben, Papa. Keine Angst. Und die Wolken und so brauche ich auch nicht. Ganz viel Blau und Weiß möchte ich. Papa, das ist doch Schalke.“. In den Wochen darauf ist sein sechster Geburtstag und ich baue ihm seine Schalke-Garderobe mit Trainerbank. Für das Bett fehlt mir das handwerkliche Geschick und vermutlich auch der Mut. (Karsten Stanberger, 2015)

2 Gedanken zu „Blau und weiß ein Leben lang – Notizen einer Reise“

  1. Liebe Susen, lieber Karsten,

    Ihr seid begnadete Schreiber, hervorragende Beobachter und somit Autoren welche ich sehr schätze.
    Man geht mit Euch durch den Raum, fühlt was Ihr fühltet und sieht was Ihr gesehen habt. Ihr gebt uns die Möglichkeit Eindrücke von vorher ungesehenen und unbekannten Welten zu spüren. Dafür vielen Dank.
    Macht weiter und schreibt auch weiterhin wichtiges im Leben nieder, für uns Menschen welche gern teilhaben und verstehen welchen wichtigen Auftrag Ihr Euch angenommen habt.

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